Amsterdam (pts/24.06.2017/11:00)
"Zu wenig Schlaf
vermindert unsere kognitiven Fähigkeiten und wirkt sich negativ auf die
physische Gesundheit aus. Leider wird dieses wichtige Thema im gesamten
Gesundheitswesen immer noch zu oft unterschätzt", warnte Prof. Pierre
Maquet, Leiter der neurologischen Abteilung an der Universität Lüttich
auf dem 3. Kongress der European Academy of Neurology (EAN) in
Amsterdam.
1,5 Stunden weniger Schlaf als unsere Großeltern
Im Schnitt schlafen heute Amerikaner 6,5 und Europäer rund sieben
Stunden pro Nacht. "Das ist um eineinhalb Stunden weniger als unsere
Großeltern geschlafen haben und bedeutet, dass wir alle an chronischem
Schlafmangel leiden", so Prof. Maquet. Das wirkt sich nicht zuletzt auf
die Informationsverarbeitung im Gehirn aus. "Bei Schlafmangel leidet vor
allem die Fähigkeit, neue Informationen im Gedächtnis zu behalten", so
Prof. Maquet. "Man kann sie zwar aufnehmen aber sie werden nicht
dauerhaft im Gehirn abgespeichert, sondern gehen langfristig wieder
verloren. Es scheint so zu sein, dass die nach jeder neuen Information
angelegten Gedächtnisspuren fragil bleiben, bis sie im Schlaf verfestigt
und so ins Langzeitgedächtnis eingebaut werden."
Schlafmangel fördert Übergewicht und Herzerkrankungen
Es wird intensiv daran geforscht, welche Auswirkungen Schlafmangel
auf die körperliche Gesundheit hat. "Noch kennen wir nicht alle
Langzeitfolgen, aber wir wissen, dass zu wenig Schlaf Ãœbergewicht
fördert und einen Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen
darstellt", erklärt Prof. Maquet. Schlafmangel steigert nicht nur den
Appetit, sondern verändert auch die Essgewohnheiten. Das Craving nach
ungesundem Essen mit viel Zucker und Fett treiben den BMI dann schnell
nach oben. "Damit wird ein Teufelskreis in Gang gesetzt", erklärt Prof.
Maquet. "Menschen mit Übergewicht leiden vermehrt an Schlafapnoe, können
dann noch weniger durchschlafen und handeln sich damit ein zusätzlich
erhöhtes Risiko für Herzkrankheiten ein."
Risiko für Diabetiker
Eine Studie von Prof. Hans Romijn am Leiden University Medical Center
(LUMC) hat gezeigt, dass auch der Stoffwechsel durch zu wenig Schlaf
gestört wird. Bei den Studienteilnehmern sank die Empfindlichkeit
gegenüber Insulin schon nach einer einzigen Nacht mit nur vier Stunden
Schlaf um beinahe ein Viertel. "Der Effekt stellte sich sowohl bei
Patienten mit Diabetes Typ 1 als auch bei gesunden Teilnehmern ein",
erklärt Prof. Romijn, Vorstand des universitären Medizinzentrums der
Universität Amsterdam. "Bisher ist erst wenig über die dahinterliegenden
Mechanismen bekannt, aber eine durch Schlafmangel hervorgerufene
Veränderung in der Aktivität des autonomen Nervensystems könnte eine
Rolle spielen".
Für Diabetespatienten kann das bedeuten, dass sie trotz
Insulinspritzen einen erhöhten Blutzuckerspiegel und damit ein höheres
Risiko für Herzkrankheiten, Nierenfunktionsstörungen und andere
Folgeerkrankungen haben. "Diabetiker brauchen nach einer Nacht ohne
ausreichenden Schlaf, eine Extradosis Insulin nach den Mahlzeiten", so
Prof. Romijn. "Regelmäßig zu wenig zu schlafen, ist für niemanden
ratsam, aber für diese Patientengruppe gilt das in besonderem Maße."
Auch Schlaf zur falschen Zeit ist schädlich
Weitere Studien konnten zeigen, dass chronischer Schlafmangel auch
das Immunsystem schwächt und empfänglicher für Infektionen und
Virenerkrankungen macht. Möglicherweise sind die Langzeitfolgen aber
auch noch deutlich gravierender: "Es gibt kleine Studien, die zeigen,
dass es ein geringfügig erhöhtes Krebsrisiko für Schichtarbeiter gibt,
aber für verlässliche Beweise werden wir in der Zukunft noch mehr Daten
brauchen", so Prof. Maquet.
Wie Prof. Maquets eigene Forschung zeigt, birgt nicht nur der
Schlafmangel an sich gesundheitliche Risiken, sondern auch die
dauerhafte Störung des natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus. In einer
Versuchsanordnung mussten junge und völlig gesunde Probanden 42 Stunden
lang wach bleiben und sich dabei verschiedenen kognitiven Aufgaben
stellen. Dabei wurden ihre Gehirnaktivitäten mit einer funktionellen
Magnetresonanztomographie aufgezeichnet. Am Ende stand die völlig
unerwartete Erkenntnis: Es gibt nicht nur eine innere Uhr sondern gleich
mehrere. "Zu unserer Ãœberraschung hat sich gezeigt, dass es zwischen
verschiedenen Regionen der Großhirnrinde Unterschiede im zirkadianen
Rhythmus gibt", fasst Prof. Maquet zusammen. "Jede dieser inneren Uhren
scheint auf den Schlafmangel an sich zu reagieren. Das bedeutet dass die
Informationsverarbeitung nur dann optimal funktioniert, wenn wir zur
richtigen Zeit schlafen."
Neurologen sollten der Schlafqualität mehr Aufmerksamkeit schenken
Im Lichte dieser Erkenntnisse, appellierte der Experte an seine
Kollegen, der Schlafqualität ihrer Patienten deutlich mehr
Aufmerksamkeit zu schenken: "Die Auswirkungen von Schlafmangel und
Störungen des Tagesrhythmus wird von den meisten noch unterschätzt. Wir
müssen verstärkt anerkennen, dass der Schlaf entscheidenden Einfluss auf
die Gesundheit und den Verlauf vieler neurologischer Erkrankungen hat",
so Prof. Maquet. "Schon einfache Fragen wie: Schlafen sie gut?,
Schnarchen Sie? oder Leiden sie unter Tagesmüdigkeit oder
Schlaflosigkeit? können extrem hilfreich für unsere Patienten und den
Verlauf ihrer Therapie sein."
Quellen: Muto et al. Local modulation of human brain responses by
circadian rhythmicity and sleep debt. Science 2016, 353-6300; Thanh
Dang-Vu et al. Neuroimaging in Normal and Abnormal Sleep. In: Sleep
Disorder Medicine, 2017. van den Berg et al. A single night of sleep
curtailment increases plasma acylcarnitines: Novel insights in the
relationship between sleep and insulin resistance. Archives of
Biochemistry and Biophysics, Volume 589, 1 January 2016, Pages 145-151